DIE SAMMLUNG ADLER:
EINE GESCHICHTE VON SAMMELLEIDENSCHAFT,
VERLUST UND WIEDERENTDECKUNG

Im Herzen von München baute der erfolgreiche Bettfedernfabrikant Karl Adler zusammen mit seiner Ehefrau Emilie eine umfangreiche Kunstsammlung auf. Bereits als junger Mann entwickelte Karl Adler eine tiefe Leidenschaft für die Kunst und nahm Kontakte zu in München lebenden Künstlern auf. Karl und Emilie Adler statteten ihr Wohnhaus in München Harlaching mit wertvollen Gemälden, Möbeln, Kunsthandwerk, Skulpturen und orientalischen Teppichen aus.

Karl Adler war aber vor allem ein Grafiksammler und konzentrierte sich auf die moderne Kunst. 

Unterstützt, inspiriert und beraten wurde das Ehepaar Adler im Verlauf des Sammlungsaufbaues von ihrem geliebten Schwiegersohn Erich Glas; seinerseits ein moderner Künstler, der am legendären Bauhaus in Weimar sein Handwerk erlernte und dessen Grafiken ebenfalls in der Sammlung Adler vertreten waren.

Neben Erich Glas fanden auch viele andere Künstler in den Adlers wertvolle Förderer und wurden nicht selten gute Freunde der Familie. Die Sammlung gehörte unbestritten zu einer der umfangreichsten Grafiksammlungen zur Kunst der Moderne in Deutschland. Mit Arbeiten von Künstlern wie Alfred Kubin, Max Slevogt, Käthe Kollwitz, Erich Heckel, Max Beckmann, Max Pechstein, Rudolf Großmann, Edwin Scharff, Josef Scharl, Karl Schmidt-Rottluff, Oskar Kokoschka, Lovis Corinth, Max Liebermann, Max Klinger und anderen.

WELTEN ENTFERNT: ENTWURZELTE LEBEN, NEUANFÄNGE
UND EINE UNGELÖSTE FRAGE

Mit der Machterübernahme der Nationalsozialisten erkannten Karl und seine Familie, dass Juden keine Zukunft in Europa haben. Seine fünf Kinder machten sich auf den Weg nach Israel (damals Palästina genannt), wo sie – wie damals üblich – in verschiedenen Kibbuzen untergebracht wurden. Das Leben im Kibbuz stellte einen spürbaren Gegensatz zu ihrem vorherigen Leben in den Künstlerzirkeln Europas dar. Sie waren gezwungen, sich an ein hartes Leben in den landwirtschaftlichen Kommunen zu gewöhnen, eine neue Sprache zu erlernen, eine andere Mentalität und den sozialistischen Lebensstil eines Kibbuz zu akzeptieren.

1935 besuchten Karl und Emilie ihre Kinder, die nun in Israel ihre Wurzel schlugen und dort ihre Familien gründeten. In einem Brief mit dem Titel „Palästinareise“ beschrieben sie Freunden ihre Eindrücke während der zweimonatigen Reise. Auf Fotografien kann man das unterschiedliche Leben von Karl und Emilie im Gegensatz zum Rest der Familie leicht nachvollziehen: Während sich ihre Kinder und Enkelkinder, gekleidet in kurzen Shirts, bereits an das Klima angepasst hatten, schwitzten Karl und Emilie Adler in ihrer Kleidung als sie vor dem Karmelberg für die Kamera posierten.

Wieso kehrten Karl und Emilie Adler nach ihrem zweimonatigen Aufenthalt zurück nach Deutschland? Ganz genau weiß es heute niemand.  In einem umfangreichen Briefwechsel zwischen Karl und dem bekannten Künstler Alfred Kubin, der im Rahmen der Recherchen gefunden wurde, schreibt Karl ausdrücklich über ihre Absicht, selbst nach Israel auszuwandern. Die Enkelkinder erinnern sich, dass sie alle versuchten, sie zum Bleiben zu überreden und ebenfalls nach Israel zu emigrieren. Aber sie kehrten zurück nach München.

Karl Adler erlebte die Beschlagnahme seiner Sammlung sowie seines gesamten Eigentums nicht mehr. Er wurde einen Tag nach der Pogromnacht, am 10. November 1938 von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und ins KZ Dachau gebracht. Dort wurde er am 22. November 1938 ermordet. Das Totenbuch listet ihn als Gefangenen, der eines gewaltsamen Todes starb. Emilie Adler ist es nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes gelungen im März 1939 aus Deutschland zu ihren Kindern nach Palästina zu fliehen und die Asche ihres Mannes am Fuß des Kamelbergs beizusetzen – nicht weit entfernt von dem Ort, wo sie vor nicht allzu langer Zeit gemeinsam schwitzend für ein Foto posierten.

EINE REISE BEGINNT, BEINAHE ZUFÄLLIG

Jahrzehnte später prüfte Hagar Lev, eine der Urenkelinnen der Adlers, in Zusammenarbeit mit der Initiative für Stolpersteine in München die Möglichkeit, Gedenksteine neben dem ehemaligen Wohnhaus der Familie zu verlegen. Während der vorbereitenden Recherche, wurde sie von dem Team auf den Artikel „Hitlers Kuratoren“ von Catrin Lorch in der Süddeutschen Zeitung von 2016 aufmerksam gemacht.

Der erste Satz trifft sie wie ein Blitz:

"Die Plünderer rückten jede Nacht aus. Sie klingelten beim Bettfedernfabrikanten Karl Adler, dem Kunsthändler Otto Bernheimer, seiner Kollegin Anna Caspari, dem Kaufmann Otto Scharff.”

Der Artikel erwähnt die Geschichte von über 70 Kunstsammlungen, die in den späten 1930er Jahren geraubt wurden, darunter auch die der Adlers. Dieses Kapitel über den Kunstraub der Nationalsozialisten in München war weitgehend unerforscht und kam lediglich ans Licht der Öffentlichkeit durch den Archivfund einer Akte des Münchner Stadtmuseum im Jahre 2007, die Beschlagnahme-Dokumente und Briefe enthielt. Daher beauftragte die Stadt zwei Jahre später die Kunsthistoriker- und Provenienzforscher Horst Keßler und Dr. Vanessa Maria Voigt, den Fall im Rahmen eines umfassenden Rechercheprojekts zu erforschen.

Erst durch den Artikel in der Süddeutschen Zeitung erfuhren die Nachfahren von Karl und Emilie Adler überhaupt von der Existenz der Sammlung, ihrer tragischen Geschichte hinter dem Verlust. Denn während Emilie Adler ihren Kindern manches über ihre persönliche Geschichte weitergab, ließ sie vieles im Verborgenen. In den frühen Jahren Israels war so etwas keinesfalls unüblich. Viele der Emigranten schwiegen über das Leben, das sie zurücklassen mussten und konzentrierten sich mit aller Kraft auf den Neuanfang und auf das, was noch kommen würde.

Die Urenkelin teilte das Gelernte mit anderen Familienmitgliedern, und nach und nach wurden weitere Familienmitglieder kontaktiert, von denen einige auf ihren eigenen unwahrscheinlichen Reisen in verschiedenen Ländern ansässig geworden waren.

SPURENSUCHE

Schließlich verabredeten sich nach Monaten der Vorbereitung eine Vielzahl von Nachfahren von Karl und Emilie Adler im Sommer 2020, mitten in der Pandemie, zu einer Videokonferenz. Anwesend waren um die 25 von ihnen, verteilt auf fünf verschiedene Länder, welche die verschiedensten Zweige des vertrackten Stammbaums repräsentierten, mit einer Altersspanne, die von über 80-jährigen Verwandten bis hin zu den 20-jährigen Ururenkeln von Karl und Emilie reichte.

Die Nachkommen der Adlers wollten das Puzzle ihrer Familie zusammensetzen und schlossen sich zu einer Suche nach Wissen zusammen, um sowohl ihr eigenes Verständnis zu erweitern als auch die Geschichte an künftige Generationen weiterzugeben.

Die Familie wandte sich an die Münchner Kunsthistorikerin Vanessa Voigt. Und so begann die formale Forschung, unterstützt vom DZK- Deutschen Zentrum Kulturgutverluste Magdeburg, im Juni 2021.

Diese Website dient nun als Zeugnis der Reise durch die Geschichte von Karl und Emilie Adler und dem Schicksal ihrer Kunstsammlung, um das teilen zu können, was ans Licht kam und vor allem: wer Karl und Emilie Adler waren, was sie aufgebaut haben und was ihnen genommen wurde.